Martin Amanshauser

Popcorn, Jasmin und Special Offers

Wiege der Demokratie, Geburtsort der Klassischen Tragödie: Wie geht es eigentlich Athen in diesem Sommer? Kann man eine Reise wagen?

Der Sommer hat mehr zu bieten als Krise. Überhaupt, welche Krise? Wer durch Athen spaziert und nicht gerade einer Demonstration über den Weg läuft, bemerkt von der Vielbeschworenen zunächst einmal gar nichts. An der armgeredeten Plaka, rund um den Monastiraki-Platz, florieren die Flohmärkte mit Bilderrahmen, Autoradios und Briefmarkenalben. Rundum präsentiert sich eine moderne Stadt, in deren Strukturen viel und gut investiert wurde. Eine blitzblanke Ubahn, eine Innenstadt mit H&M&Co, wie man sie von Rom bis Kiew vorfindet. Aus den Nullerjahren lassen die Olympischen Spiele grüßen – allerdings, wie fern und fröhlich wirkt die Erinnerung! Vielleicht fallen heute ein bisschen zu viele Bettler auf, ein bisschen zu viele traurige Straßenmusikanten, doch auch die sorgen für großstädtisches Flair und (teilweise) gute Musik. Nur Supermarkt ist keiner zu finden, und wenn man endlich auf einen stößt, kann er geschlossen sein, verbarrikadiert. Anzeichen für die Krise? Nein, die griechische Nahversorgung wird traditionell über Kleingeschäfte abgewickelt. Und überhaupt blüht alles unverdrossen. Keine andere europäische Metropole hat eine derart hohe Baumdichte, Orangen und Oliven sprießen an jeder Ecke.

Special Offer. Seit die Wiege der Demokratie und der Geburtsort der Klassischen Tragödie von Wirtschaftsdaten ins Schlingern gebracht worden ist, gibt es üble Presse. Die Bilder der Proteste schrecken Besucher ab – ganz unnötig, denn es sind in erster Linie Bilder. Es gibt keine rationalen Gründe, die griechische Hauptstadt nicht zu besuchen; handelt es sich doch zu 99 Prozent um das gute, alte Athen. Ein Problem waren in den letzten Jahren die hohen Preise. Viele Leute fuhren über die Grenze nach Bulgarien oder in die Türkei – und besorgten sich dort etwa griechisches Olivenöl um ein Drittel billiger. Zynisch gesprochen gibt es heute sogar eine Reihe krisenbedingter Vorteile: der Verbilligungswahn greift um sich, Waren wie Öl, Ouzo oder Oliven gehen um ein Drittel günstiger über den Ladentisch, die Tourismusbranche bietet Special Offers an, Mietwägen und Hotels. Die Angst, dass – vor allem deutsche – Gäste ausbleiben, weil sie den Ärger „der Griechen“ fürchten, die von den deutschen Boulevardmedien regelmäßig auf schärfste als Faulpelze diffamiert werden, greift um sich. Doch auch hier keine Panik am Olymp: Die Griechen reagieren gelassen, wissen ganz gut zu unterscheiden zwischen Politik und Realität. Nein, hört man überall, niemand sei sauer auf die deutschen Gäste, man wolle und benötige sie; von der Politik sei man hier wie dort desillusioniert. „Spezialpreise für Schulen und andere Gruppen“ steht rechtschreibfehlerfrei auf einer Kreidetafel vor einem Lokal.

Gezim schiebt seinen kleinen Verkaufswagen an eine günstige Stelle in der Fußgängerzone. Er handelt mit dem sämigen Salepi, das aus den Wurzeln einer Orchideenart gewonnen wird. Kein Kaffee, kein Tee, aber ein angenehmes Süßgetränk, gewürzt mit Zimt und Ingwer. Gezim ist Einwanderer aus Albanien, der seit zehn Jahren in Athen lebt und eine Familie gegründet hat. Das Geld liegt für ihn nicht auf der Straße, und das wenige muss er mit seinen Salepi-Konkurrenten teilen. Der Kampf um den besten Stellplatz macht ihm keine Sorgen: „Die Sonne scheint für alle!”, lautet sein Motto. Abgesehen davon ist er zufrieden mit seinem Gastland. „Ich weiß nicht, was da alle kristisieren“, erklärt Gezim, „Griechenland ist für mich das perfekte Gastland. Sonne, Meer, Felder, Berge. Was willst du sonst noch?“

Gutes, altes Athen? Auf jeden Fall! Vor allem aus Blickrichtung des Lycabettus (Lycavittos), dem ewigen Vizeweltmeister der Athener Hügel, mit seinen 277 Metern deutlich der höchste der Stadt. Auf der Spitze steht kein Tempel, sondern eine stinknormale, orthodoxe Sankt-Georgs-Kapelle, daher wird dieser Aussichtspunkt, von dem aus man die ganze Stadt inklusive Akropolis von oben sieht, nicht gerade überlaufen. Eine eingetunnelte Standseilbahn, 210 Meter lang, Talstation etwas versteckt in der Odós Aristíppou (Stadtteil Kolonaki), führt seit den Sechziger Jahren zu dieser sekundären Attraktion, deren Besucherzahlen etwa ein Hundertstel der Akropolis betragen.

Auf den Lycabettus muss man zweimal fahren. Untertags, um die Größe der Stadt zu erspüren, und ein zweites Mal bei Sonnenuntergang, wenn sich der weite Himmel verdunkelt und wie wild gewordene, computergesteuerte Glühwürmchen langsam die Lichter aufblitzen. Das Panoramarestaurant verlangt einen grotesken Preis für ein Gummi-Mousaka, doch der Rundblick gehört definitiv zu den schönsten Griechenlands. Von hier sieht man auch in einer Hügelsenke das 3.000-sitzige Open-Air-Theater (1964-67) des Modernisten Takis Zenetos, jenes unglücklichen Architekten, dessen bekannteste Bauten großteils abgerissen wurden. Sein Name ist verbunden mit der Biermarke Fix.

Unten in Kolonaki stand einst die erste Fix-Brauerei. Das ist insofern erwähnenswert, als es heutzutage neben Amstel und Heineken wieder Fix zu trinken gibt, Athens Stadtbier, eine der historisch interessantesten Biermarken Europas. Gegründet wurde die Brauerei Mitte des 19. Jahrhunderts vom Bayern Karl Johann Fuchs (Karolos Ioannou Fix), hundert Jahre später hatte sie ein Quasi-Monopol in Griechenland. Ein neues Brauhaus an der Syngrou-Straße wurde von Takis Zenetos entworfen (1965).

Der Abstieg der Marke Fix begann, als sie allzu stark mit der Militärdiktatur in Verbindung gebracht wurde, wozu Zenetos mit seiner als arrogant geltenden Monumentalarchitektur das seine beitrug. Chancenlos gegen die Weltmultis meldete Fix 1983 den Konkurs an. In den Neunziger Jahren sollte eine Parkgarage an der Stelle der Brauerei errichtet werden, das Gebäude wurde zu zwei Dritteln abgerissen, ehe eine architekturaffine Zenetos-Bürgerinitiative die Zerstörung stoppte. Ein Museum für Moderne Kunst soll im Restgebäude entstehen. Die Metrostation neben der Brauerei heißt heute Syngrou-Fix, wodurch das Toponym den Gerstensaft wohl überdauern wird.

Vintage Design im Hotel. Athen war nie so richtig Avantgarde, doch nach Lösungen wird permanent gesucht. Andere Marken setzen auf die Gegenwart, zum Beispiel das „New Hotel“ in einer Nebenstraße vom Syntagma-Platz. Für die Inneneinrichtung zeichnen die Campana-Brüder verantwortlich, Schöpfer des legendären „Favela armchair“, der aus kleinen Holzscheiten zusammengesetzt ist. Fernando & Humberto Campana haben nicht nur ihre hämmorrhoidenfeindlichen Stühle, auf die man sich kaum zu setzen wagt, über die Zimmer des Boutiquehotels verteilt, sondern auch im Frühstücksraum zwei Holzcollagen aus dem Boden wachsen lassen. Ein interessantes Konzept: Sie bauten den alten Möbelfundus, Thonetsessel, skandinavische Stühle und anderes Vintage Design in originelle Lösungen um: Stühle sind jetzt tätig als Zeitungshalter, Kleiderbügelständer oder hölzerne Rechenmaschinen. Die Beratung stammte von lokalen Architekten, das Ziel war, ein Hotel zu schaffen, das „lokal spricht und universell funktioniert“. Auf herkömmliche Malerei an den Wänden wird weitgehend verzichtet – alte Ansichtskarten hinter Glas, ausgeschnitten in unkonventionellen Formen, tun es ebenfalls.

Herkömmlicher und doch irgendwie cool geht es das „A for Athens“ an. Direkt gegenüber von Monastiraki steht dieses urbane Mittelklasse-Hotel mit seinem extravaganten Dachterrassenlokal, auf dem man größtenteils Einheimische findet. Wer wagt es schon, mit einem winzigen Aufzug auf die höchste Ebene eines fremden Hotels zu fahren? Dementsprechend werden da oben Nichtraucher ohne Cocktails vom Stammpublikum etwas schief angesehen. Dafür sehen sie ihrerseits die Akropolis in Nahaufnahme und die reizvollen Straßenschluchten aus der Vogelperspektive. Getränke kommen nur ganz allmählich aus dem Unterstock – zu Phantasiepreisen – man zahlt für die schönste Terrasse der Innenstadt.

Popcorn und Jasmin. Sommerhitze, die Leute überfluten die Straßenlokale. Dort kann es durchaus sein, während die Bestellung wieder einmal auf sich warten lässt, dass drei hilfsbereite Kellner hintereinander auftauchen, alle erfüllt von griechischer Herzlichkeit, alle mit dem gleichen Fragenkatalog. Man folgt wohl der sympathischen Logik, das Lokal will sich vorstellen. Kennt man schließlich alle Mitarbeiter, kommen eventuell Getränke.

Keiner will in der Hitze beim häuslichen Plasmabildschirm bleiben – Athens Spezialität sind an die 50 Sommerkinos, viele mit Tischen und Bedienung, im Idealfall auch mit Tempelblick. Sie sind keine neue Erfindung: seit 1900 zeigt Athen sein Kino im Freien, auf flachen Dächern und in Innenhöfen, wo immer Sitze aufgestellt werden können. Das traditionelle Kino-Symbol sind die blühenden Jasminbüsche, die an Wänden emporwachsen. Der Jasminduft vermischt sich auf reizvolle Weise mit dem fahlen Gestank des Popcorns, hier bekommt man eine Ahnung davon, wie gut Retsina schmecken kann. Meist beginnen die Vorstellungen in den dachlosen Kinosälen um 21 und 23 Uhr, so dass ausreichend Zeit bleibt für lange, griechische Abende. Denn die beginnen auch in sogenannten Krisenzeiten unveränderbar spät.